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Thomas Bihler, Leitender Psychologe der Klinik Menterschwaige, erklärt Kontakt- und Beziehungsstörungen und wie wichtig soziale Kontakte für uns sind.

 Herr Bihler, ist der Mensch für die Gemeinschaft bestimmt?

Bereits für Aristoteles gab es keinen Zweifel, dass der Mensch ein „animal sociale“, das heißt ein soziales Wesen ist. Da unser natürliches Umfeld Sippen oder Großfamilien von 20 bis 25 Personen sind, haben wir ein angeborenes Interesse an Beziehungen und brauchen die Gemeinschaft. Wenn jemand daher übermäßig viel alleine ist und sich aus sozialen Situationen isoliert, bedeutet das nicht automatisch, dass er krank ist, führt aber zu einer erhöhten psychischen Belastung. Gefühle der Isolation und Einsamkeit können bei vielen psychischen Störungen, wie Depression, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen, Begleitsymptome sein. Bei der sozialen Phobie und der ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung sind Ängste vor sozialen Beziehungen, Ablehnung und das daraus resultierende Vermeidungsverhalten zentrale Hauptsymptome.

Wie entwickeln sich Kontakt- und Beziehungsstörungen?

Sie entstehen meist durch eine Form von Vernachlässigung oder Traumatisierung in der frühen Kindheit. Häufig wachsen betroffene Kinder mit belasteten Eltern auf, die aufgrund eigener unsicherer Bindungserfahrungen und -defizite nicht in der Lage sind, das Kontakt- und Beziehungsverhalten der Kinder adäquat zu beantworten. So fehlt diesen Kindern das Urvertrauen und sie fühlen sich nicht wahr- und angenommen. In der Pubertät, einer Zeit gewisser Selbstunsicherheit und intensivierter Selbstreflektion, werden die existierenden Gefühle von Einsamkeit, Entfremdung und Ausgeschlossensein noch schmerzhafter bewusst. Forscher haben zudem herausgefunden, dass Kinder mit Bindungsstörungen überdurchschnittlich häufig Opfer von Mobbing ab dem Kindergarten oder spätestens der Schulzeit sind. Somit kommen weitere schmerzhafte Erfahrungen und die Zurückweisung von Gleichaltrigen hinzu. Aufgrund der vielen negativen Erlebnisse kann es dazu kommen, dass die Betroffenen Sicherheit suchen, indem sie Kontakte vermeiden, anstatt Bekanntschaften aufzunehmen und sich zu integrieren.

Und hilft es, sich zu isolieren und Kontakte zu vermeiden?

Kurzfristig fühlen sich Menschen durch den sozialen Rückzug entlastet. Dauerhaft steigt die Angst aber, da soziale Bindungen und ein Platz in der Gruppe die entscheidenden Kriterien für unser Sicherheitsgefühl sind. Ein Teufelskreis entsteht: Die Betroffenen haben soziale Ängste, sie vermeiden Kontakte, dadurch steigt das Angstlevel und das erhöht wiederum das Vermeidungsverhalten. Wenn dann noch einer der meist wenigen Kontakte wegfällt oder die Arbeitsstelle verloren geht, kann es zur Dekompensation kommen und sich eine psychische Störung, wie Depression oder Angststörung entwickeln. Auch in der kalten Jahreszeit oder zu Anlässen, wie den Weihnachtfeiertagen und Sylvester, Feste der Familie und Partnerschaft, wird das Einsamkeitsgefühl für viele besonders schmerzhaft und es ist alleine schwer auszuhalten.

moment 4 Foto Isolation

Wie hilft die Klinik Menterschwaige aus der Spirale herauszukommen?

Wir versuchen den Teufelskreis der Einsamkeit und des Rückzugs zu durchbrechen, indem wir den natürlichen Wunsch nach Kontakten sowie Beziehungen wieder mobilisieren. Zum einen machen wir mit unserem Gruppentherapiekonzept und dem zentralen Element der Milieutherapie wieder Lust auf Menschen. Zum anderen gilt es alte negative Erfahrungen und Ängste in Einzel- und Gruppentherapie durchzuarbeiten. So helfen wir die vorhandenen Verletzungen ein Stück weit zu heilen, arbeiten am negativen Selbstbild und versuchen die Einstellung zu verändern sowie Perspektiven für den späteren Alltag aufzuzeigen.  

Wie bekommen Betroffene wieder Lust auf soziale Kontakte?

Wir schaffen in den Gruppen ein konstruktives soziales Klima – eine Atmosphäre von Respekt, gesehen und angenommen werden. Diese Gruppenkultur ermöglicht dem Einzelnen korrigierende emotionale Erfahrungen zu machen. Das heißt, negative Vorerfahrungen, wie nicht wahrgenommen, ausgelacht und abgelehnt werden, treffen auf ein freundliches Gruppenklima, in dem sich die negativen Erwartungen und Ängste nicht bewahrheiten. Die Patientinnen und Patienten können alte, negative Erfahrungen ein Stück ausgleichen und positive sammeln. So zeigen wir auf, wie es sein könnte und motivieren wieder ein soziales Umfeld und Kontakte aufzubauen. Darüber hinaus erarbeiten wir mit den Patientinnen und Patienten individuelle Perspektiven für den Alltag: Was muss sich konkret ändern und an welche Interessen und Ressourcen können sie anknüpfen.

Was ist präventiv möglich?

Wir müssen bereits im Kindesalter beginnen. Kinder benötigen ausreichend soziale Kontakte, nicht nur zu den Erwachsenen der Kleinfamilie, sondern zu anderen Kindern und in der Gruppe. Kindergärten und Schulen müssten gruppendynamischer arbeiten, um ein gutes Klima zu schaffen und Themen wie Mobbing gut im Blick zu haben. Erwachsene sind häufig so auf Arbeit und Karriere fokussiert, dass sie ihr soziales Umfeld vernachlässigen. Sie sollten sich bewusst machen, dass soziale Kontakte und Beziehungen etwas sind, das gepflegt werden muss. Auch im Erwachsenenalter sollte man sich nicht nur auf einzelne, wenige Bezugspersonen fokussieren, sondern auch hier sind Gruppenerfahrungen wichtig. Wer Tendenzen des sozialen Rückzugs bei sich beobachtet oder in eine depressive Stimmung kommt, sollte sich Hilfe suchen und sich mit den Ursachen auseinandersetzen.

Vielen Dank für die Einblicke, Herr Bihler.

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